Bindung von Autisten zu Geschwistern (ASS)

Bild-für-Bild Videoauswertung von Yonat Rum, Ditza A. Zachor und Esther Dromi über Geschwister-Interaktionen, SRCD Poster.

SRCD 2017 poster presentation

Esther Dromi, Tel Aviv University, vor dem Poster, im Gespräch mit Reinhard Grassl von Mangold International.

Die Studie wurde mittels Mangold INTERACT durchgeführt, der professionellen Software für die qualitative und quantitative Video-basierte Beobachtungsforschung.

Ziel war, Bindungsepisoden von Kindern mit ASS gegenüber Kindern mit normaler Entwicklkung (TD) zu charakterisieren, wobei diese mit einem älteren Geschwisterkind interagierten. Als Vergleich dazu diente die Interaktion mit ihrer Mutter.

Methoden und Material

Teilnehmer:
20 israelisch jüdische Kinder, mit ihren Geschwistern und Müttern

  • n = 10 Kinder mit ASS (5-9 Jahre, Jungen, sehr/mäßig funktionsfähig)
    und ihre 10 älteren normal entwickelten Geschwister (TD) (8-12 Jahre, 2 Jungen & 8 Mädchen) und ihre 10 Mütter
  • n = 10 normal entwickelte Kinder (TD) (4-8 Jahre, Jungen)
    und ihre 10 älteren normal entwickelten Geschwister (TD) (5.5-10 Jahre, 4 Jungen & 6 Mädchen) und ihre 10 Mütter

Datensammlung:
Jedes Kind wurde zu Hause in sechs sozialen Interaktionen gefilmt:
drei Spielsituationen mit jedem der beiden Partner (älteres Geschwister/Mutter):

  • ein gemeinsam durchgeführtes Konstruktionsspiel
  • Lesen eines Kinderbuches
  • Spielen mit einem vertrauten Spielzeug

Die Reihenfolge der Aufgaben und Partner wurde ausbalanciert, wobei jede Interaktion 30 Minuten (ca. 10 Minuten je Aufgabe) gedauert hat.

Analyse:
Die Videoaufnahmen wurden mit der INTERACT Software systematisch analysiert, welche speziell entwickelt wurde, um jede Kategorie von Interesse Frame für Frame sorgfältig zu codieren.

Im ersten Schritt der Analyse haben wir während der Videoaufnahmen für jeden Teilnehmer der Dyade On-Task und Off-Task-Verhaltensweisen codiert. Die Abbildungen 1 und 2 veranschaulichen die Verhaltensmuster der Kind-Mutter- und Kind-Geschwister-Interaktion einer ASS-Familie. Die Ergebnisse von INTERACT ermöglichten die Ermittlung des jeweiligen prozentualen Anteils der On-Task und Off-Task-Zeiten beider Partner während der Interaktion. Das Codieren beider Partner zur selben Zeit als „On-Task“ zeigte eine Bindungsepisode.

Im zweiten Schritt der Analyse fügten die Codierer qualitative Anmerkungen entlang der Interaktion ein, um folgendes zu erfassen: (1) Die Qualität der Bindungsepisoden, zum Beispiel von Episoden, in denen beide Partner gleichzeitig als „Off-Task“ codiert wurden; und (2) zahlreiche Interaktionscharakteristiken wie Augenkontakt, physische Berührung, Reziprozität, Vermittlung und Konstruktion, Initiation und Dominanz eines jeden Partners.

Abbildung 1
On-Task und Off-Task-Verhalten der Mutter und des Kindes mit ASS von Familie 5 während ihrer 3-Aufgaben-Interaktion.

Abbildung 2
On-Task und Off-Task-Verhalten des Geschwisterkindes und des Kindes mit ASS von Familie 5 während ihrer 3-Aufgaben-Interaktion.

Ergebnisse

Einige Analysen werden noch durchgeführt; deswegen stellt der folgende Abschnitt den aktuellen Trend dar:

  • Gruppenvergleich (zwischen ASS und TD): In der TD-Gruppe konnten in allen Kind-Geschwister und Kind-Mutter-Interaktionen Bindungsepisoden für alle drei Aufgaben zuverlässig beobachtet werden. In der ASS-Gruppe konnten ebenso Bindungsepisoden in allen Dyaden festgestellt werden. Die Bindungsepisoden fielen jedoch im Allgemeinen kürzer aus als in der TD-Gruppe. Kinder beider Gruppen beschäftigten sich während der Interaktionen für eine beachtliche Zeit lang mit Aufgaben, welche ihnen präsentiert wurden („on-task“) (prozentueller Anteil der Zeit, siehe Tabelle 1).
  • Partnervergleich (Geschwister gegenüber Mutter): Bei Kindern mit ASS wurden in Interaktionen mit ihren Geschwistern häufigere und längere Bindungsepisoden aufgezeichnet als in Interaktionen mit den Müttern.
  • Gruppe mit X Partner: Vorausgehende Analysen zeigen, dass die Kind-Geschwister-Bindungsmuster in der ASS-Gruppe den Kind-Mutter-Mustern der TD-Gruppe eher ähnelten als den Kind-Geschwister-Gruppen der TD-Gruppe. Zudem, wiederum die ASS-Gruppe betreffend, übertraf die Kind-Geschwister-Synchronisation die Kind-Mutter-Synchronisation, das gilt jedoch nicht für die TD-Gruppe.
  • Aufgabenvergleich (Konstruktion gegenüber Buch gegenüber Spielzeug): Der Kontext des Konstruktionsspiels und des vertrauten Spielzeuges zeigten keinen signifikanten Unterschied. Hinsichtlich des Kontextes „Buch lesen“ fielen die gesamte Interaktionsdauer wie auch die Bindungsepisoden in Kind-Mutter-Interaktionen länger aus als in Kind-Geschwister-Interaktionen beider Gruppen (TD, ASS). 
  • Qualitative Interaktionscharakteristiken: Kind-Geschwister-Interaktionen wurden wechselseitiger eingestuft als Kind-Mutter-Interaktionen, und Kinder mit ASS tendierten dazu, einen Wechsel der Geschwisterinteraktion einzuleiten. Mütter zeigten während der Interaktion mit dem Kind, häufiger als deren Geschwister, ein Vermittlungs- und Konstruktionsverhalten und neigten dazu, der dominierende Partner zu sein. Zudem neigten Geschwister während des Lesens von Büchern dazu, sich spontan gegenüber zu setzen, um einen idealen Augenkontakt herzustellen (siehe Bild 1), wohingegen Mütter dazu neigten, nebeneinander zu sitzen, um einen idealen Körperkontakt herzustellen (siehe Bild 2).

Tabelle 1: Prozentueller Anteil der Interaktion pro Partner der ASS-Gruppe mit dem Code „On-Task“

Bild 1: Von der Mutter initiierte nebeneinander sitzende Leseposition von Familie 9, um liebevolle Berührungen zu fördern

Bild 2: Spontane Face-to-Face Leseposition von Geschwistern von Familie 9, um Augenkontakt herzustellen.

Wichtigste Diskussionspunkte

In Übereinstimmung mit früheren Studien (z. B. Adamson et al., 2009) zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass Kinder mit ASS fähig sind, Bindungsepisoden in Interaktionen mit ihren Müttern zu erreichen. Des Weiteren haben wir herausgefunden, dass sie mit ihren älteren Geschwistern sogar bessere Ergebnisse erreicht haben.

  • Die besondere Rolle des Geschwisterkindes: Die Ergebnisse, dass Bindungsmuster zwischen einem Kind mit ASS und einem älteren Geschwisterkind den Kind-Mutter-Mustern der TD-Familien ähnlicher sind als die Kind-Geschwister-Muster derselben Gruppe, unterstützt unsere Hypothese, dass ältere TD-Geschwister von Kindern mit ASS eine besondere Rolle für die soziale Entwicklung ihres jüngeren Bruders oder ihrer jüngeren Schwester mit ASS zukommt. Die Ergebnisse weisen auf die wichtige Rolle des älteren Geschwisters als Partner für soziale Fähigkeiten bei Interventionen für die ASS-Population hin.
  • „Raum“ für Initiation und Reziprozität: Die hierarchische Frame-für-Frame-Analyse von Geschwister- gegenüber Mütterinteraktionen ergab, dass Bindungsepisoden mit Müttern zwar mit mehr liebevollen körperlichen Berührungen gekennzeichnet waren, Mütter jedoch häufiger Vermittlung und Konstruktion aeigten als Geschwister. Darüber hinaus gestalteten sich einige Vorfälle von sozialen Fähigkeiten, die von Kindern mit ASS gezeigt wurden, während der Geschwister-Interaktion vielversprechender: Sie initiierten häufiger soziale Handlungen und die Interaktionen verliefen häufiger wechselseitig. Diese Ergebnisse stimmen mit denen von El- Ghoroury and Romanczyk (1999) überein, welche herausgefunden haben, dass Kinder mit ASS häufiger verbale Initiierungen gegenüber ihren „weniger zielstrebigen“ Geschwistern entgegenbrachten als gegenüber ihren Eltern. Sie bestätigten, dass Eltern versuchen, Lücken in der Kommunikation zu schließen, während Geschwister eine weniger didaktische, mehr wechselseitige Interaktion zulassen. Dies stellt eine mögliche Richtung für die zukünftige Eltern-Interventionsforschung dar.
  • Mehrere soziale Partner: Die Unterschiede, welche in den Bindungsmustern während des Lesens eines Buches auftauchten, betonen die einzigartige Rolle, welcher jeder Partner einnimmt, um die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten von Kindern mit ASS zu verbessern. Diese Annahme stimmt mit der polytropen Sichtweise der Bindung überein, welche im sozialen Netzwerkmodell dargestellt wird (Lewis, 2005) und welche annimmt, dass mehrere gleichzeitig auftretende Bindungsfiguren eine Vielfalt von unterschiedlichen Bedürfnissen des Kindes befriedigt.

Trotz der relativ kleinen Stichprobe von teilnehmenden Familien hat diese Studie einen Aufschluss über das vernachlässigte Forschungsthema über Geschwisterinteraktionen, wenn ein Kind ASS hat, gegeben. Diese Arbeit ist Teil einer länger andauernden Studie, bei welcher aktuell noch weitere Daten gesammelt und analysiert werden.